Musiktherapie

ARD Das Erste

Singen statt Sprechen / Verlust der Sprache

Fast immer kommt er wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Ein Schlaganfall ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Und diejenigen, die ihn überleben, sind oft schwer gezeichnet. Eine Folge von Schlaganfällen ist besonders gravierend – Aphasie: der Verlust der Sprache. Etwa ein Fünftel der Überlebenden eines Schlaganfalles sind davon betroffen. Ein Schlaganfall, der Aphasie verursacht, zerstört typischerweise Sprachregionen auf der linken Seite des Gehirns, unter anderem die sogenannte Broca-Region.

Singen der Worte statt sie zu sprechen – Plötzlich können Sie sich verständlich machen! Volkslieder gemeinsam singen – macht Spaß und hilft Aphasie zu überwinden.

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Informationen zur Musiktherapie

Helmut Alba, Musiktherapeut:

»es ist ergreifend zu sehen, wie Rolf sich freut, mitmacht, mitsingt, die Tonübungen schnell so gut beherscht, dass er oft mit Erfolg die zweite Stimmme dazu singt.«


Warum ein System-therapeutischer Ansatz bei Aphasie?

Wie bei allen Krankheiten wird das Umfeld des Betroffenen mit beeinträchtigt – bei Aphasie jedoch besonders.
Jegliche Kommunikation ist erschwert, und oft wissen Angehörige einfach nicht, was der bis vor kurzem so »normale Partner« jetzt überhaupt noch von den versteht, was sie ihm mitteilen.
Sie können nur schwer einschätzen, ob wirklich nur die Sprache in Mitleidenschaft gezogen wurde oder auch andere kognitive Funktionen. Das führt oft zu irrationalem Verhalten der Angehörigen.

Sie reden mit ihrem Aphasiker wie mit einem Kind, sprechen besonders laut, bevormunden ihn, oder wissen schlicht weg nicht was sie tun sollen, sind völlig hilflos oder probieren alle möglichen Formen von Übungen aus. (Selbstverständlich gibt es auch Angehörige, die gut mit der Situation umgehen.)

Betroffener und Angehörige bräuchten gegenseitig Hilfe und Verständnis, was aber wegen des Sprachproblems häufig ausbleibt.

Die Musiktherapie bietet Raum für beide Partner, sich auf einer anderen Ebene zu »treffen« und so wieder eine neue emotionale Beziehung aufzubauen. Die gemeinsam erlebten Erfahrungen geben neue Motivation, den Alltag miteinander zu leben. Irrationale Verhaltensmuster der Angehörigen können in der musikalischen Interaktion hörbar gemacht werden und gegebenenfalls thematisiert werden.

Die Musik bietet auch den Raum andere Verhaltensmuster auszuprobieren. Musik bietet weiterhin die Möglichkeit, dass die Partner sich gegenseitig ihre Emotionen durch die Musik mitteilen können und so eine Chance besteht, sich dem Anderen mitzuteilen und Leid, Trauer oder Wut zu teilen.


Indikationen für Musiktherapie

Im Prinzip sollte jede Aphasie eine Indikation für Musiktherapie sein, da durch die Erkrankung ein psychischer Prozess der Krankheitsverarbeitung ausgelöst wird, der durch eine fachkundige Person begleitet werden sollte. Manche Aphasiker werden so gut von ihrem Umfeld aufgefangen, dass dieses diese Aufgabe übernimmt.

Eine deutliche Kontra-Indikation liegt vor, wenn der Aphasiker Widerstände in der Musiktherapie zeigt. Das könnte daran liegen, dass er keinen Zugang zu dem Medium hat, oder etwas Anderes den Therapieprozess behindert, wie etwa eine Übertragung auf den Musiktherapeuten.
Um die Indikation etwas spezifischer zu machen, folgt nun eine Liste von einzelnen Problembereichen, wie sie bei Aphasie auftreten können:

Schwere globale Aphasie:

  • keine Möglichkeit sich anderweitig zu verständigen
  • keine oder nur geringe Möglichkeiten des Stimmbandgebrauchs

Soziale Isolation:

  • Kontakten aus dem Weg gehen
  • Nicht adäquat reagieren können
  • Keinen Kontakt wollen
  • Kontaktversuche mit Frust abbrechen
  • psychische Probleme: extreme Stimmungsschwankungen
  • Depressionen
  • Probleme im Umgang mit der eigenen Erkrankung (Frustration, Wut gegen sich selbst gerichtet, Hoffnungslosigkeit)
  • Probleme im Umgang mit Angehörigen oder Personal

Wernicke- und Broca-Aphasien:

  • Große Schwierigkeiten Worte, verbale Äußerungen zu beginnen oder abzubrechen.

Die Freude am Singen oder Musizieren ist keine Indikation im eigentlichen Sinne, da das auch in der Freizeit ohne therapeutische Aufsicht stattfinden könnte. Sie kann aber als guter Eingang für eine Therapie benutzt werden und die Grundstimmung des Patienten zu verbessern. Das wiederum kann eine Motivation sein, sich auch für andere Therapien zu öffnen.


Musiktherapeutische Behandlungsmethoden

Unterschiedliche Menschen und unterschiedliche Probleme im Umgang mit der Erkrankung erfordern auch eine Vielfalt an Therapiezielen und wie diese erreicht werden können.

Wie wir bei den Indikationen gesehen haben, kann Musiktherapie ein relativ weites Spektrum von Indikationen bedienen und zahlreiche Zielsetzungen haben. Diese Werden auch durch verschiedenen Aktivitäten innerhalb der Therapie erreicht, hier ein kleiner Überblick:

Rezeptive Musiktherapie:

Rezeptiv bedeutet, dass der Patient nicht aktiv am Musizieren beteiligt ist.

Es wird mit Musik gearbeitet, die entweder direkt vom Musiktherapeuten für den Patienten gespielt wird, oder von einer Aufnahme angehört wird.

Das Musizieren für den Patienten, kann als „Geschenk“ für den Aphasiker angesehen werden und an die Wünsche und Bedürfnisse des Patienten angepasst sein.

So kann der Musiktherapeut die am Patienten abzulesende Stimmung in der Musik aufgreifen und so in der Erfahrungswelt des Aphasikers Anschluss finden. Das kann zum Ausdruck bringen, dass der Therapeut den Patienten versteht. Dieser „Empathische Spiegel“ kann ein Ansatzpunkt sein, Gefühle auszulösen und ein Bild von sich selbst zu bekommen. (I see myself through you). Die Stimmung des Aphasikers kann aber auch langsam durch die Musik verändern, wenn diese nach und nach den Charakter ändert. So können z.B. stark depressive Patienten zeitweilig aus ihrer Depression geholt werden und zugänglicher für andere Therapien werden.

Diese form der Therapie hat einen sehr niedrigen Schwellenwert, da der Aphasiker keinerlei Aktivität zeigen muss, und im Gegensatz zu den meisten anderen Therapien keinerlei Anforderungen gestellt werden.

Das gemeinsame Aussuchen und Anhören von aufgenommener Musik, kann Emotionen frei setzten. Manche Musikstücke haben eine ganz besondere Bedeutung im Leben eines Menschen bekommen, die beim erneuten Anhören wieder erweckt wird und auch die daran gebundenen Gefühle und Erinnerungen. Ein „Zurückschauen“ ist ein Teil der Krankheitsverarbeitung, kann aber auch sehr konfrontierend sein und sollte gut begleitet werden. Natürlich ist es auch möglich seine ganz persönliche neue Lieblingsmusik zu entdecken, und so einen Schritt in die „Neue Zukunft“ zu gehen.
Musik hören kann eine Entspannende Wirkung haben. Unter Anleitung können zusätzlich Entspannungsübungen durchgeführt werden, um Stress abzubauen. Manche Aphasiker leiden auch unter einer enorm hohen Körperspannung, die zusätzlich zu Aphasie das Sprechen erschwert, auch dafür können Entspannungsübungen sinnvoll sein.

Aktive Musiktherapie:

Aktiv bedeutet, dass der Patient selbst am Musizieren beteiligt ist.

Auch hierbei gibt es eine Vielzahl von möglichen Aktivitäten, um verschiedenen Anforderungen und Behandlungszielen gerecht zu werden. Einige Aktivitäten sind in der Gruppe möglich und sinnvoll, andere in der Einzeltherapie.

  • Sprachspiele:
    Sollen eine spielerischen Umgang mit Sprache oder Teilen von Sprache ermöglichen. Dazu gehört das Summen von Tönen, welche im Kreis weitergegeben werden, oder das Füllen von Wortlücken in einem Lied. Solche Spiele finden am besten in Zusammenarbeit mit Logopäden statt.
  • Interaktionsspiele:
    Haben zum Ziel, die Patienten miteinander in Kontakt zu bringen, auf eine ungezwungene Art und Weise zu fördern, so dass der Aphasiker wieder in der Lage ist, auf Kontaktangebote einzugehen oder selbst die Initiative dazu zu ergreifen. Ein einfaches Beispiel ist das Weitergeben von gespielten Tönen durch Blickkontakt, ein Dirigentenspiel, oder anverwandte Spiele.
  • Abrufen und Hemmen:
    Hat einen mehr übenden Charakter. Da viele Aphasiker Probleme mit dem Anfangen oder Beenden von Sprachaktionen haben, und diese häufig auch innerhalb der Musik zu beobachten sind, kann man durch einfache Vor-und-Nachspiel-Spiele üben, einen Anfang oder ein Ende zu finden. Dazu gehört auch das »Puls finden«. Ein Metrum, was gleichbleibend ist und einen Anfang und ein Ende hat.
  • Rhythmuswahrnehmung und Verarbeitung:
    Sprache besteht aus Rhythmus. Die Wahrnehmung und Ausführung ist jedoch häufig beeinträchtigt (auch durch andere Erkrankungen als Aphasie). In der einfachen Improvisation auf Trommeln kann geübt werden, Rhythmen wahrzunehmen, zu immitieren oder das Gegenteil zu spielen. Das fördert auch die Konzentration und ist gleichzeitig eine Art Vorbereitung auf eine freie Improvisation.
  • Lieder singen:
    Wie schon vorher erwähnt können Aphasiker oft erstaunlich gut singen. Ihnen gut bekannte Lieder können häufig mit richtigem Text und vollständiger Melodie gesungen werden. Da Singen die einzige Sprachfunktion ist, die wenig unter der Aphasie gelitten zu haben scheint, bildet sie eine Brücke zwischen »Früher und Heute« zwischen »Gesundheit und Krankheit«.

Diese Funktion hat hohen Krankheitsverarbeitungswert. Zudem kann das Hören und Fühlen der eigenen Stimme einen erlösene Funktion haben. Während des Singens in einer Gruppe, kann sich der Aphasiker als weniger behindert erfahren als in einer Gruppe von redenden Menschen.


Musiktherapie in der Praxis:

Natürlich lassen sich mit Liedern auch Sprachspiele und Übungssituationen durchführen. Für die meisten Aphasiker ist es schwer, eine Melodie ohne Text zu singen oder einen Text nur im Rhythmus der Melodie zu sprechen. Mit einiger Hilfe lassen sich diese Sprachvarianten aber wieder verbessern.

  • Gesangsübungen:
    Sind ein Übungsfeld für den Stimmklang, den Stimmumfang und einen ruhigen, kontrollierten Atemrhythmus.Zusätzlich kann man unter sprachtherapeutischer Anleitung das gezielte Erzeugen von verschiedenen Vokalen und Lautkombinationen auf eine spielerische Art und Weise üben. Wiederholungen werden interessanter durch verschiedene Tonhöhen und Rhythmen.
  • Improvisationen:
    Werden auf einfach zu spielenden Instrumenten durchgeführt und finden der Übersichtlichkeit halber meist in Einzeltherapien statt. In dem musikalischen Kontakt von Patient und Therapeut ist es möglich, einen Ausdruck an die Gefühlswelt zu geben und auf musikalischer Ebene in eine Interaktion zu kommen, wie sie auf sprachlicher Ebene nicht mehr möglich ist.Dieser Kontakt ist der Raum, in dem der Musiktherapeut den Krankheitsverarbeitungsprozess des Patienten begleiten kann. Ihm ist es möglich, durch die Musik seine Gefühle zu übermitteln, zu lenken oder zu spiegeln. Dies alles natürlich basierend auf Kenntnis von psychothrapeutischen Prozessen und in Absprache mit dem multiprofessionellen Behandlungsteam.

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